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Jörg-Uwe Albig „Ein Volk trainiert das Gewinnen

»Das Ei« - Beijings neues Nationaltheater. Es ist eines der vielen avantgardistischen Bauwerke, mit denen die kommunistischen Machthaber bei den Olympischen Spielen Weltoffenheit und Wirtschaftskraft demonstrieren wollen. Den größten Teil der Bevölkerung wissen sie dabei auf ihrer Seite. Hunderttausende freiwillige Helfer haben sich auf Besuch vorbereitet, üben sich in einer Sportart namens »Zivilisation«. Selbst Regimekritiker unterstützen die Spiele: Ein Erfolg, so hoffen sie, wird die Reformbereitschaft der Regierung erhöhen

Die Prozession war in Nebel gehüllt.

Nur das Rot der Kapuzengewänder und das Weiß der Flamme schimmerten durch diese Luft, die wie Weihrauch war.

"Eine Welt, ein Traum", rief der Erste, als die Flamme aufloderte.

Seine Fackel war mit jenen Segen stiftenden "Glückswolken" verziert, auf denen, wie die Alten wussten, die Gottheiten reiten.

Vor dem Aufstieg hatten die Fackelträger dem Berg mit einer Zeremonie Respekt erwiesen.

Winde heulten. Kälte biss in die Gesichter. Wolken schwebten bergab. Still wanderte die Flamme von Fackel zu Fackel. Als die letzte Trägerin schweigend das heilige Gerät in die Höhe reckte, entrollten die anderen Prozessionsteilnehmer Fahnen. Sie skandierten auf Englisch, Chinesisch und Tibetisch:

"Die Spiele beginnen.

Kommt alle nach Beijing." Und noch einmal: "Eine Welt, ein Traum." Da brannte, am 8. Mai 2008, die olympische Flamme auf dem Mount Everest, den Tibeter und Chinesen Qomolangma nennen, "Mutter des Universums".

Nur die Auserwählten des chinesischen Staatsfernsehens durften die Zeremonie begleiten - denn es war ein Ritus, geheim und öffentlich zugleich.

Ein kultischer Akt wie die Opfer auf dem heiligen Berg Tai, den in alter Vorzeit die Kaiser bestiegen, um dort Himmel und Erde zu versöhnen, Unsterblichkeit zu erlangen und den Göttern ihre Herrschaft anzuzeigen.

Li, die Riten! Sie halten den Kosmos zusammen.

Mit Riten und Zeremonien, wussten Chinas Kaiser, zwingt man die Planeten in ihre Bahnen und die Tage in ihre Folge. "Durch die Riten", schrieb um 300 v. Chr. der Denker Xunzi, "verbinden sich Himmel und Erde in Harmonie, scheinen Sonne und Mond, schreiten die vier Jahreszeiten ordnungsgemäß voran, marschieren die Sterne und Konstellationen, fließen die Flüsse und blühen alle Dinge." Und was könnte ein mächtigerer Ritus sein als jener, an dem die ganze Welt teilnimmt?

Ein Hochamt für über 16 000 Aktive und Offizielle aus 205 Ländern, für zweieinhalb Millionen Zuschauer vor Ort und vier Milliarden Fernsehzuschauer weltweit.

Ein Zeremoniell aus Ornament und strenger Regel: das Kreisen der Läufer um eine leere Mitte; das Bewegen von Kugeln und Bällen, die Erdgestalt tragen; das Aufquellen von Synchronschwimmer- Gruppen in Formationen, die der Lotosblüte gleichen.

Die Olympischen Spiele.

Um das Jahr 600 n. Chr., als das Reich zerbrochen war; als Naturkatastrophen, Hungersnöte und Epidemien das Volk dezimiert und Barbaren den Norden des Landes überrannt hatten - da erkannte der Philosoph Wang Tung den Grund für die Misere der chinesischen Herrscher: "Ach", schrieb er, "ist es nicht dazu gekommen, weil sie die Riten und die Musik der einstigen Könige aufgegeben haben?" Und so sind auch die Olympischen Spiele, die nun in Beijing beginnen, zuallerletzt Sport, womöglich noch nicht einmal, wie von vielen beklagt, Propaganda - sondern vor allem: Metaphysik.

Eine magische Reparatur der Welt. Ein Versuch, mit einer erdumspannenden Liturgie all jenen Übeln zu begegnen, die China zu Beginn des dritten Jahrtausends heimsuchen. Da ist die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich, zwischen der Mehrheit der Han-Chinesen und Minderheiten wie Tibetern und Uiguren. Die Inflation, die den Schweinefleischpreis in die Höhe treibt. Die Unzufriedenheit im Land, die fast täglich zu Streiks und Bauernaufständen führt, 74 000 in einem Jahr! Da ist der Fall der Aktienkurse an der Schanghaier Börse, die nach dem Boom im Jahr 2007 um 40 Prozent gesunken sind.

Da sind die vergifteten Flüsse, Böden und Himmel.

Die Korruption. Und die Angriffe des Westens, der Chinas Wirtschaftsmacht fürchtet und deshalb die Politik seines Regimes besonders eifrig verdammt.

Und so tritt China, das sich anschickte, seine Ankunft im 21. Jahrhundert zu feiern - "grüne", "humanistische" und "Hightech-Spiele" hatte es versprochen -, mit Olympia in Wahrheit wieder ein in die Kaiserzeit. Einer der olympischen Slogans lautet ja: "Die Welt gab uns sechzehn Tage - wir geben ihr fünftausend Jahre." Dafür wurde Beijing begradigt, ganz im Geiste des Ersten Kaisers Qin Shi Huangdi, der seine Metropole Xianyang um 220 v. Chr. als Abbild des Kosmos erschuf und ihre Straßen in Gestalt von Sternbildern anordnen ließ. Wie über Nacht wurden im vorolympischen Beijing Fahrbahnen geglättet, Bürgersteige verlegt, Metro-Tunnel durchs Erdreich gewühlt, U- und S-Bahn-Netze von 114 auf 198 Kilometer gedehnt. Entlang den Ausfallstraßen sanken Baracken mit Werkstätten und Fernfahrerkneipen in den Staub. Von den einst 6000 hutongs, den verwinkelten Altstadtgassen mit den verfallenen Hofhäusern, blieben noch rund 1000 übrig. Dafür ragen jetzt überall Prachtbauten aus Glas und Stahl empor: kühl und blau, ein Abglanz des Himmels.

Acht Pfeiler hat dieser Himmel, sagen die Weisen - und Acht ist die Zahl dieser olympischen Spiele. Mit Bedacht haben die Organisatoren den Start auf den achten Achten des Jahres Null Acht gelegt, auf acht Minuten nach acht: Acht, die Zahl des Glücks und der Wandlung.

Legionen von Paaren mühten sich, rechtzeitig - notfalls mit künstlicher Befruchtung - ein "olympisches Baby" zu zeugen, das womöglich an diesem achten Achten zur Welt kommen soll.

Und ist es ein Zufall, dass Beijings neues Olympiagelände auf jener Nord-Süd-Achse liegt, die den Kaiserpalast, die Verbotene Stadt und den Platz des Himmlischen Friedens mit dem Himmelsaltar Tiantan verbindet, dem Allerheiligsten des konfuzianischen Staatsrituals?

Dort beschwor der Kaiser einst die kosmische Ordnung - mit Opfern von Jade und Seide, mit Hymnen, Verbeugungen und Kniefällen. Sein Gesicht war dabei nach Norden gerichtet - eben dorthin, wo jetzt das Nationalstadion steht, das "Vogelnest" aus 42 000 Tonnen Stahl.

Leicht wie eine Wolke liegt es da, wie ein Geschöpf des Elements Luft - so wie die ufo- förmige Alu- Halle für die Gewichtheber an das Element Metall und die zerfließende Kugel der Gymnastikhalle an die Erde gemahnt; so wie der "Wasserwürfel", das Schwimmstadion mit seiner nachtblauen Bläschen-Fassade, das feuchte Element repräsentiert.

Elf Sportstätten wurden für Olympia renoviert, 20 gleich neu errichtet - es sind gebaute Gebete, die hier in den Himmel ragen.

Und es ist, als habe das Olympiagelände in den sieben Jahren der Vorbereitung die einstmals Verbotene Stadt als Tabubezirk des Heiligen abgelöst.

Zahlreiche Wächter in dunkelblauen Uniformen kontrollierten während der Konstruktionsphase die fünf Haupttore der Baustelle; Polizeiautos umkreisten bei Tag und bei Nacht den zwei Meter hohen Wellblechzaun.

Und wie einst in der Verbotenen Stadt neben der Kaiserfamilie nur Domestiken leben durften, waren außer dem olympischen Geist die Einzigen, die freien Zugang zum Bezirk der Sporttempel hatten, die Wanderarbeiter aus den armen Provinzen.

Es waren die Parias, die für 50 Yuan am Tag, umgerechnet fünf Euro, im Akkord Gräben schaufelten, umschwirrt von Mücken aus künstlichen Wasserbecken, die das Feng-Shui verbessern sollten. Die Lohnsklaven, die Baracken in den Baugruben bewohnten, die Fenster mit Zeitungen verklebt, der Himmel ein Rechteck mit einem Rahmen aus Beton.

Oder die in hastig errichteten Zeltlagern an der Peripherie hausten, von Bussen ausgesetzt und wieder eingesammelt an diesen Nicht-Orten, deren Lage ihnen bis zur Abreise ein Rätsel blieb.

Die Männer aus der Provinz, die wochenlang in Militärzelten an einem Kanal im nordöstlichen Stadtteil Wangjing wohnten, zwischen Flughafen- Schnellweg und Fünfter Ringstraße, klagten über ihre Arbeitsbedingungen. Über die muffigen Kartoffeln, an denen oft noch die Schale klebte, über die Nudeln ohne Beilage - "nicht einmal ein bisschen Weißkohl dazu". Über die Baufirma, die das Geld für die Versicherung sparte. Über das kalte Wasser für die Morgenwäsche. Über die Rechtlosigkeit.

Sie klagten über die Trennung von den Familien, die erst beendet war, wenn sie zum Ernteeinsatz in die Heimatdörfer zurückfuhren.

Sie klagten über den Boss der Baufirma, der ihre Klagen nicht hörte. Das Einzige, was sie nicht beklagten, war das Große Ritual: "Wir sind sehr glücklich über die Olympischen Spiele." "Wir werden alles im Fernsehen anschauen." "Wir sind sehr stolz, dabei zu sein." Später schlüpften die Männer in ihre neonbefunzelten Zelte, drängelten sich zwischen die Kollegen, die schon auf ihren Holzpaletten lagen. Draußen erhob sich ein Sandsturm, fegte über die menschenleere Hauptstraße. Umkreiste das Plakat, das im gelben Harmonie! Zheng Mojie, Vizedirektorin des "Amts für den Aufbau des kulturellen und ethischen Fortschritts der Hauptstadt", lässt am liebsten den Zauber der Zahlen wirken. Sie spricht von den Zwei Verbesserungen, den Drei Wichtigkeiten, den Vier Vortrefflichkeiten, die ihre Behörde vor Olympia auf den Weg gebracht habe. "Die Vier Vortrefflichkeiten", zählt Frau Zheng auf, "sind: vortreffliches Benehmen, vortreffliche Ordnung, vortrefflicher Service und vortreffliche Umwelt." Vor allem die Sitten will Frau Zhengs Behörde verbessern: mit Videoclips und Parolen, mit Plakaten ("Sei ein guter Fahrgast, fahre vorbildlich Bus"), mit "Diätrichtlinien für Beijinger Bürger" und Etikette-Handbüchern, die etwa das Schlürfen, Husten, Rülpsen, Knochen spucken und Furzen bei Tisch verdammen.

Beijings Männer, die im Sommer gern Bauch zeigen, werden nun zu korrekter Kleidung angehalten. Taxifahrer sollen nicht mehr nach Knoblauch, Schweiß oder Rauch riechen. Und an öffentlichen Pissoirs hängen neuerdings Schilder, die zum Nähertreten einladen:

"Ein kleiner Schritt für jeden Mann, ein großer Schritt für die Menschheit." Denn die Sitte ist ja nicht Selbstzweck, sondern reguliert den Kosmos. Wenn die Obrigkeit die Sitte fördere, heißt es im "Buch der Riten", einem der fünf Klassiker des Konfuzianismus, "werden Himmel und Erde ihre Kräfte erstarken lassen, Himmel und Erde vereinigen sich, Schattiges und Lichtes finden sich." Weil die Zahl Elf an zwei säuberlich aufgereihte Menschen erinnert, ernannte das Amt im Verlauf der Einstimmung auf Olympia den elften Tag eines jeden Monats zum "Schlangestehtag". Freiwillige mit himmelblauen Jacken, roten Schirmmützen und roten Wimpeln formieren sich seither an Bushaltestellen und U- Bahnen wie auch an der Medizinausgabe im Hospital.

Zuweilen führen Studenten das ideale Einreihen vor: "Forschungen haben ergeben", sagt Frau Zheng, "dass die Leute nichts tun, was sie nicht sehen." Es gab bewegende Momente.

Eine Angestellte von Frau Zhengs Behörde brach vor Rührung in Tränen aus, als sie die herrliche Schlange an einem U- Bahn-Knotenpunkt sah. Und als Frau Zheng selbst eines Tages die tadellose Menschenreihe vor dem Fahrkartenschalter am Hauptbahnhof schauen durfte, fühlte auch sie "Rührung und Dankbarkeit".

NICHT DIE SITTEN dienen Olympia, sondern Olympia dient den Sitten. Das ist die Kraft des Großen Rituals, das die Welt in Ordnung bringt. Während die internationale Politik Boykottforderungen diskutierte, übten in Beijing Olympiahostessen mit Essstäbchen zwischen den Zähnen, Büchern auf dem Kopf und Papierbögen zwischen den Knien die tadellose Haltung. Und während Beijings Autos jedes Jahr 1,3 Millionen Tonnen Schadstoffe aushusteten, setzte sich ein milder, fest gescheitelter städtischer Angestellter namens Wang Tao in den Kopf, in seiner Freizeit den Mitbürgern das Spucken auszutreiben.

Es war der 4. Mai 2006, als Wang zum ersten Mal, nach einem halben Jahr Bangen und Grübeln, bewaffnet nur mit seiner Angst und ein paar Päckchen Papiertaschentüchern, zum Platz des Himmlischen Friedens marschierte, um der Unkultur Einhalt zu gebieten. Da hörte er in seinem Rücken das Rasseln, mit dem ein Straßenverkäufer den Rotz hochzog.

Er drehte sich um und stellte den Barbaren zur Rede.

"Haben Sie gespuckt? Würde es Ihnen etwas ausmachen, das wieder wegzuwischen?" "Wer sind Sie?" fragte der Spucker zurück. "Wer hat Sie beauftragt?" "Niemand", sprach Wang Tao.

"Aber Beijing ist Gastgeber der Olympischen Spiele. Jeder hat die Pflicht, die Umwelt zu schützen.

Wenn Sie es nicht aufwischen, tue ich es für Sie." Der Täter zögerte. Doch er putzte die Bescherung auf und erhielt zur Belohnung das Päckchen Papiertaschentücher als Geschenk.

Von da an widmete Wang Tao seine Freizeit der Erziehung seiner Nachbarn.

Er erntete Beschimpfungen, musste in Deckung gehen vor einer Wasserflasche, mit der ein Ertappter im Zorn nach ihm schlug. Manchmal fühlte er sich einsam und unverstanden, war wütend und gekränkt:

"Ich tue doch nur Gutes", sagt er, "trotzdem werde ich bedroht." Doch er machte weiter. Ließ Kärtchen drucken, die er an Passanten verteilte: "Liebe Freunde, die Olympischen Spiele rücken näher!" Er richtete eine Website ein, gründete eine Organisation namens "Grüner Specht", die mittlerweile 3000 Freiwillige vereint, hat rund 5000 Euro von seinem Ersparten in die Kampagne investiert. Inzwischen bezahlt ihm der Staat die Papiertaschentücher.

An der U-Bahn-Station Guomao, im Riesenschatten des China World Trade Center und des neuen, verdrehten Fernseh-Triumphbogens, instruierte Wang seine Helfer. "Kritisiert niemals den Spucker!

Sagt ihm nicht, dass er nicht spucken soll, sondern zeigt ihm, wie er noch besser spucken kann - nämlich ins Papiertaschentuch. Behandelt ihn wie einen Freund oder Verwandten." 2007 konnte die Renmin-Universität nach 3000 Stunden Beobachtung des Beijinger Alltags immerhin kleine Schritte in Richtung Zivilisation nachweisen: Die Zahl der öffentlichen Spucker sei in einem Jahr von fünf auf 2,5 Prozent gefallen. Und 95 Prozent der Bürger räumten inzwischen in Bus und Bahn den Platz für Alte und Kranke - im Jahr zuvor seien es nur 80 Prozent gewesen. Der "Bürgerindex" für zivilisiertes Verhalten sei von 60 auf 73 Punkte gestiegen - nur noch sieben Punkte entfernt vom erstrebten Standard.

"Die Wirtschaft wächst in Rekordgeschwindigkeit", sagt Xie Jiaxun, "aber die Qualität der Menschen braucht zur Verbesserung noch Zeit. Das chinesische Hofprotokoll ist 3000 Jahre alt.

Die Olympischen Spiele geben uns die Chance, uns an unsere schönen Manieren zu erinnern." Frau Xie weiss, wie man die Massen betört. Seit 20 Jahren strahlt ihr Gesicht für TV-Sender, beglänzt Spielshows und Reisequiz- Revuen. An einem Tag im März, 150 Tage vor Olympia, nutzt sie ihren Liebreiz, um in einem girlandengeschmückten Saal in der Gasse Nr. 6 die Bürger von Beijings Stadtteil Dongsi Benehmen zu lehren.

Im Jahr 2002 hat Beijings Olympiakomitee diesem Viertel nordöstlich der Verbotenen Stadt die Weihen als Vorzeige-Stadtteil der Spiele verliehen. Seither ist der Alltag Dongsis ein Feiern, Opfern und Lernen zum höheren Ruhm der Harmonie.

Mehr als die Hälfte der 40 000 Bewohner Dongsis, sagt die Parteisekretärin, hätten bereits Englischkurse absolviert. Bürger zwischen sechs und 90 Jahren hätten blonde Perücken aufgesetzt, um australische Touristen darzustellen, und im Chor "How are you" gebrüllt.

Ein Schaukasten an der 3. Gasse feiert den 76 Jahre alten Modellbürger Xie Liang, "König der Wegbeschreibung", der über 500 Haltestellen von über 30 Buslinien auswendig kennt, eigenhändig die Entfernungen zwischen den Stationen ausmaß und Englisch lernte, um sein Wissen auch Ausländern schenken zu können.

Für den Vortrag von Frau Xie im Saal der Gasse Nr. 6 haben sich etwa 200 Lernbegierige in Schale geworfen. "Wir sollten gehen wie der Wind, aber nicht wie der Sturm", erklärt ihnen der Fernsehstar.

"Wir sollten stehen wie eine Pinie und sitzen wie eine Glocke." Eine Frau eilt mit einer Thermoskanne durch die Reihen, gießt heißes Wasser in Pappbecher nach.

"Stehen Sie auf, als ob ein Faden Ihren Kopf hochzöge", sagt Frau Xie lächelnd. "Fühlen Sie den Stuhl mit Ihrer Wade. Dann setzen Sie sich wieder hin.

Der Faden bleibt dran." Eine Welle aus Köpfen brandet auf, fällt in sich zusammen. "Schön", summt Frau Xie und legt die Beine schräg. "Dies ist die Sitzhaltung für die Dame", erläutert sie. "Das rechte Bein nimmt einen Winkel von 45 Grad ein." Ein Scharren, ein Rascheln von Säumen. "Die Hand ruht auf einem Knie, nicht in der Mitte." Und Frau Xie erklärt. Sie erklärt, dass ein Handschlag eine bis drei Sekunden dauert. Sie rügt den "Toten Fisch" wie den "Tigerzangengriff".

Sie empfiehlt, nicht mit dem Zeigefinger zu zeigen, sondern mit der ganzen Hand.

Und dann schockiert Frau Xie ihre Zuhörer mit der Geschichte, wie ihr einst in einem Pariser Restaurant ein Kellner die Reisschale gebracht habe, in der die Stäbchen aufrecht steckten - für Chinesen ein Todessymbol.

"Nun ja", sagt Frau Xie entschuldigend, "bis zum 15. Jahrhundert haben die Franzosen noch mit Händen gegessen." Eine Delegierte des Stadtbezirks überreicht ihr die Ehrenbürgerplakette der "Olympischen Gemeinde Dongsi".

In einem verfallenen Hofhaus hinter den Ladenfassaden der Einkaufsstraße von Dongsi wohnt der Straßenfeger Zhao Shengwei, 62 Jahre alt, mit seiner Frau und zwei Enkeln, in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer, in das nicht mehr passt als ein Schrank und zwei Betten.

Neben der Tür lagert ein Kohlestapel, die Toilette ist öffentlich und liegt auf der anderen Seite der Hauptstraße. Elf Familien bewohnen die 20 winzigen Zellen, die sich um diesen Hof knüllen, und ihre Streitigkeiten, ihre Gerüche und Verzweiflungen dringen Tag und Nacht in Zhao Shengweis lichtlose Bleibe.

Hin und wieder beschwert sich die Frau über die fleckigen Wände; über die fehlende Heizung. "Hier wohnt man schlechter als in einer öffentlichen Toilette", schimpft sie.

Dann winkt Zhao ab: "Die Wege unter dem Himmel sind nicht gerade." "Wenn die U-Bahn vorbeifährt", sagt die Frau, "fällt der Gips von der Decke." "Um gesund zu bleiben, brauchst du eine ausgeglichene Haltung", antwortet Zhao. Und lacht mit seinem Gebiss, das nur noch aus Schneidezähnen besteht.

An den unverputzten Wänden, im bleichen Neonlicht, baumelt Zhaos Habe in Plastiktüten, dazwischen Weihnachtsbaum-Aufkleber, Kinderzeichnungen.

Doch überall in dem kargen Raum Insignien des Lernens: eine Rechentafel, ein Plakat mit Schriftzeichen für Schreibanfänger, auf dem Schrank Papierrollen, ein Glas mit Pinseln.

Jeden Sonntag besucht Zhao abwechselnd den Gedichtkurs und den Kalligraphiekurs der "Olympischen Gemeinde Dongsi" - schon als Kind habe er Kalligraphie und Gedichte geliebt. So nimmt der Lebenskünstler Zhao auch Olympia wie ein persönliches Geschenk, selbst wenn er sich die Tickets nicht leisten kann. "Natürlich war ich glücklich, als wir die Bewerbung um die Spiele gewonnen haben", sagt er. Und natürlich lernt auch Zhao Englisch - nicht für sich selbst, sondern für seine Enkel, die leider kein rechtes Interesse für die Sprache zeigen.

"Ich will ihnen als Vorbild dienen", sagt er. "Sie sollen denken: Wenn sogar Großvater mit seinem schlechten Gedächtnis es kann, dann können wir es auch." Es ist unwahrscheinlich, dass sein Englisch Zhao jemals einen besseren Job verschaffen wird.

Doch das ist daxue, das Große Lernen, wie es das "Buch der Riten" verlangt. Es ist ein Lernen, das nicht dem beruflichen Aufstieg dient, sondern dem Gleichklang der Gesellschaft. In diesem Lernen, heißt es, hat die Ordnung der Welt ihren Ausgangspunkt.

So arbeit eten überall Lernende an ihren Seelen, an der Seele des Ganzen. Die zweieinhalb Millionen, die sich um die 500 000 Posten als Olympia-Freiwillige bewarben, ließen sich in Englisch und Erdkunde, Sportwissen, olympischer Geschichte und guten Sitten prüfen, nahmen an Open-Air-Trainings, TeamworkÜbungen und Interviews teil.

Füllten Bögen aus mit Fragen wie: "Nach wievielmal Klingeln soll man den Telefonhörer abnehmen?" Oder: "Wer war der erste Chinese bei den Olympischen Spielen?" Richtig, der Sprinter Liu Changchun, Los Angeles 1932.

Kein Lohn wartete auf die Freiwilligen, nur Mahlzeiten und kleine Geschenke gab es - und die Ehre, dabei zu sein. So fügten sich alle ins Große Ritual, trugen Riten und Liturgien in den Alltag: die fünf Bildersammler aus Beijing, die mit ihren Kameras durch das Riesenreich reisten, um von Zehntausenden Bürgern ein "Lächeln als Geschenk für die Olympischen Spiele" einzusammeln.

Und auch der pensionierte Elektroingenieur Xiang Mingli aus der Küstenstadt Qinhuangdao, der eigens fünf Fremdsprachen lernte, um ein selbst verfasstes Olympia-Gedicht auch auf Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Arabisch vortragen zu können.

"Ich träume vom olympischen Geist, der von Generation zu Generation wandert", heißt es darin.

"Ich träume von unserem grünen Stern, der für immer eine gute Reise hat." Tatsächlich soll Olympia ja ein grünes Fest werden - ein Sommeropfer an die ewigen Kräfte der Schöpfung. Um die Stadt windet sich jetzt ein 125 Kilometer langer Parkgürtel; 28 Millionen frisch gepflanzte Bäume nehmen den Kampf mit den Abgasen auf. In der Inneren Mongolei setzten Soldaten weitere 520 000 Bäume, um die Sandstürme von der Stadt fernzuhalten. Die Wissenschaftler beim "Olympischen Blumen- und Pflanzenzucht-Projekt" erhöhten die Zahl der Blumensorten, die im August blühen, von acht auf über 1000; verlängerten auch deren Blüteperioden.

Doch der wahre Kampf fand nicht auf der Erde statt, sondern am chronisch gelben Beijinger Himmel, dessen Ozonwerte bisweilen zwei- bis dreifach über die Höchstmarken der Weltgesundheitsorganisation steigen.

Zwar verschärfte die Stadtverwaltung für das Große Ritual die Emissionsstandards für Autos, entzog 5800 Dreckschleudern dem Straßenverkehr, ließ drei neue U-Bahn-Linien bauen - doch jeden Tag stoßen zu den mehr als drei Millionen Autos 1200 neue hinzu. Und der Abriss von Kohlehochöfen senkte zwar den Schwefeldioxid- Ausstoß - dafür aber trieb der Bau-Boom die Staubbelastung in die Höhe.

Beijing hat Abwasseraufbereitungsanlagen gebaut, Kohleheizungen durch Erdgas ersetzt, Fabriken geschlossen oder aus der Stadt verlegt - doch Beijing ist keine Insel. Und noch immer registriert die Weltgesundheitsorganisation WHO jedes Jahr chinaweit 300 000 Giftluft-Tote.

Immerhin: Nachdem die Stadt die U-Bahn-Fahrpreise um 30 Prozent gesenkt hatte, wuchs die Zahl der Passagiere erstmals seit 2001 über die der Autofahrer hinaus.

Und an vier Tagen im August 2007 schaffte es die Stadtverwaltung, mit Fahrverboten, mal für Autos mit gerader Nummer und mal für die mit ungerader, die Belastung zu halbieren. Und versprach ähnliche Maßnahmen auch für die Zeit der Spiele.

So arbeitet das Große Ritual an der Läuterung des Himmels. Noch 1998 zählten die Messstationen nur 100 jener "Blauer-Himmel- Tage", an denen der Luftverschmutzungs- Index unter 101 auf einer Skala von 500 liegt; im Jahr 2007 waren es immerhin bereits 244 "Blue Sky Days".

Doch nach wie vor zeigt das Beijinger Stadtplanungsmuseum Videos vom Hauptstadtsmog - mit Erklärungstafeln zum Resignieren:

"Die neblige Atmosphäre kann Menschen leicht pessimistisch machen." Der Pessimismus macht auch vor Olympia nicht halt. So freuten sich laut einer Umfrage im März 2008 zwar 79 Prozent der Chinesen auf die Spiele - die Zustimmung sank allerdings, je näher die Bürger an den Olympiastätten selbst wohnten.

Ein Drittel der Befragten sorgte sich um das Schicksal der Sportstätten, die als "weiße Elefanten" einem nutzlosen Leerstand entgegensehen könnten.

Und einem Viertel waren die Investitionen - zwei Milliarden US-Dollar plus 38 Milliarden für die städtische Infrastruktur: mehr als drei Mal so viel wie der Preis der Athener Spiele - rundweg zu kostspielig.

Und so war es vielleicht kein Spott, sondern Sparsamkeit, die den Beijinger Künstler Zhao Bandi dazu brachte, den olympischen Fackellauf um drei Jahre vorzuverlegen - in einem Miniatur-Maßstab, der nicht die Götter erreicht, doch dafür menschliche Herzen. Nur 100 000 Euro habe die Aktion gekostet, sagt Zhao: "Es war die billigste und romantischste Eröffnungsfeier der olympischen Geschichte." Zhao, den sie den "Panda-Mann" nennen, sitzt in seinem Atelier auf dem Gelände einer ehemaligen Waffenschmiede mitten im Galerienviertel und blickt durch das Südfenster auf jene Mischung aus Schrott, Skulptur und Industrieruine, die Beijings Kunst-Mekka überzieht. Auch Zhao, gelernter Ölmaler mit Diplom der Zentralen Kunstakademie, hat sich früh auf die Ausdruckskraft des Rituals verlegt:

Er veranstaltete Modenschauen mit Panda-Couture, pflasterte U-Bahn-Züge mit Panda-Propaganda, den Erziehungskampagnen der Partei nachempfunden.

Sein weises Kindergesicht ist verschmitzt, voller List und Lachfalten.

Ausgerechnet die Schweizer Puppenstadt Bern, rund 130 000 Einwohner, wandelte er 2005 zum olympischen Beijing seiner Träume.

Den Waisenhausplatz verzauberte er in einen Platz des Himmlischen Friedens, komplett mit Großer Halle des Volkes in aufblasbarem Vinyl, überklebte Berner Straßenschilder mit den Namen Beijinger Magistralen, überredete auch den Berner Stadtpräsidenten, zur Feier des Tages einen Mao-Anzug anzulegen.

So überzeugend geriet Zhaos Zeremonie in der Ferne, dass im Internet bald Gerüchte kursierten, die Veranstalter der wahren Eröffnungsfeier hätten heimlich in der Schweiz geprobt.

Die Beijinger Organisatoren hatten alle Hände voll zu tun, die Nachfragen der Journalisten abzublocken und den Frevel zu dementieren.

Denn am Ritus darf man nicht dilettieren. Im Jahr 614 n. Chr. unterließ es etwa Kaiser Sui Yangdi, vor dem Wintersonnenwend- Opfer die nötigen Absonderungsvorschriften zu befolgen: Noch am Tag der Zeremonie erhob sich ein Sturm; des Kaisers Pferd erkrankte.

Bald überzogen Rebellen das Land mit Krieg, und vier Jahre nach dem Fauxpas wurde Yangdi von einem Höfling ermordet. So erlosch die Dynastie.

Und deshalb war es ein düsteres Omen, dass die Weltreise der olympischen Fackel zum Debakel geriet. Dass sich die Welt zehn Tage nach den Unruhen von Lhasa an Chinas verwundbarster Stelle rächte - am Ritual.

Die Welle chinesischer Wut, die sich nach dem Fackellauf- Fiasko in London, Paris und andernorts in Demonstrationen und Internet-Schmähungen entlud, war ein Ausbruch, wie ihn nur die Schändung eines Heiligtums erzeugen kann.

Die Jugendlichen mit den "Sei nicht so CNN"- T-Shirts; die Blogger, die Frankreichs Parteinahme für die Tibeter mit der Gegenforderung "Unabhängigkeit für Korsika" beantworteten; die Erregten, die in chinesischen Städten vor den "Carrefour"-Supermärkten tobten, weil in Paris ein Tibet-Aktivist den Rollstuhl der behinderten Fackelträgerin Jin Jing attackiert hatte - sie alle konnten nicht begreifen, warum die Welt ihr Land hasste.

Weshalb ein CNN-Reporter die Chinesen als "Rowdys und Strolche" beschimpfte. Wieso Westmedien als Beleg für chinesische Übergriffe Aufnahmen von prügelnden Polizisten in Nepal zeigten, und so wenige die blutigen Plünderungen in Lhasa erwähnten, die Steine auf unbewaffnete Chinesen, die verkohlten Moscheen.

Ein holländischer Kunsthändler, der in seiner Beijinger Galerie Chinas malenden Querköpfen Raum gibt, resümierte: "In nur einem Monat hat der Westen geschafft, was die Regierung in 20 Jahren nicht erreicht hat: Der ganze Mittelstand des Landes steht geschlossen auf ihrer Seite. Na bravo." Doch der Lange Marsch nach Olympia ging weiter, ungebrochen. Selbst das verheerende Erdbeben im Mai konnte ihn nur abkürzen, nicht aufhalten. Der Filmregisseur Zhang Yimou, Spezialist für Prunk, Kostüme und Massenszenen sowie Designer der Eröffnungs- und Schlussfeier der Spiele, ließ verlauten, die Dinge gingen ihren Gang: Die Massenproben im Nationalstadion mit mehr als 10 000 Statisten verliefen vorbildlich.

Einzelheiten verriet Zhang Yimou nicht: Die Zeremonie war so geheim, dass, wie es hieß, nur zehn Menschen in ihre Details eingeweiht waren - wie bei den Riten im alten China, deren mündliche Weitergabe als Verrat bestraft wurde, und die oft für die Beteiligten selbst ein Mysterium blieben.

Nur so viel aus seinem Programm ließ Zhang durchblicken:

10 000 Bilder von lächelnden Kindern wolle er zeigen, um zu erzählen, "wer wir sind und warum wir eine Familie sind".

Für die musikalische Leitung bei der Eröffnung soll Chen Qigang verantwortlich zeichnen.

Der in Paris lebende Avantgarde- Komponist empfängt im fünften Stock eines Hochhauses im Süden der U-Bahn-Station Dawanglu - ein sanfter, entrückter, 57 Jahre alter Mann mit Brille, in beigefarbener Kleidung. Seine Stimme ist weich, mit der Blasiertheit eines Priesters der Hochkultur.

Ein Komponist der zarten Töne, die sich einkapseln in Sprödheit und Stille - kein Tambourmajor für Aufmärsche.

Schon als Sechsjähriger hat Chen, Sohn eines Malers und Kalligraphen, mit dem Studium der Pekingoper begonnen. Doch Kulturrevolutionäre verschleppten den Schöngeist zur "Umerziehung".

Die Jahre von 1969 bis 1972 verbrachte er im Lager.

1984 floh Chen nach Paris. Er wurde Schüler bei Olivier Messiaen, dem größten französischen Komponisten des Jahrhunderts; wurde zu einem jener Chinesen, deren Auslandsruhm aufs Heimatland abstrahlte.

Und so war es eine Überraschung, aber kein Wunder, als das Beijinger Organisationskomitee ihn im Juli 2007 fragte, ob er in die Heimat zurückkehren wolle, um den Spielen Töne zu geben.

Nur gut ein Jahr blieb ihm für seine Aufgabe - verbunden mit vielen Kompromissen: "Man kann nicht erwarten, dass bei den Olympischen Spielen seriöse Musik gespielt wird", sagt Chen.

Nicht als Neutöner ist er engagiert worden, sondern als Priester, der Gegensätze versöhnt. Ein erklärter Sportmuffel im Stadion, ein Elitekultureller im Dienste des Volkes: So ist es das alte Prinzip des Yin und Yang, mit dem Chen, Wanderer zwischen den Kontinenten, den Kosmos ins Gleichgewicht bringen soll.

Ein Ausgleich nicht nur zwischen Kulturen und Zeitzonen, sondern auch zwischen westlicher Ratio und östlicher Emotion.

"Für westliche Musiker hat Kunst kein Gewicht, wenn sie nicht klare Gedanken ausdrückt", sagt er.

"In China ist es umgekehrt: Wenn es einen klaren Gedanken ausdrückt, ist es keine Kunst." Nur auf ein Element hatte Chen keinen Einfluss - auf das offizielle Olympia-Lied, welches das Organisationskomitee in einem mehrjährigen Wettbewerb ausgeschrieben hatte. Zehntausende von Einsendungen wurden gesichtet - ein Meer von Stimmen, aus denen die Mandarine des Komitees schließlich die ultimative Hymne destillierten.

Es waren Stars und Hobbymusiker, Hauptstädter und Provinzbewohner, Mutterländler, Hongkonger und Taiwanesen, die ihre Vision von Olympia in Reim und Klang setzten. Und es war ein kosmischer Vorteil, dass die vier Kinder aus Beijings Nachbarstadt Tianjin, der "Himmelsfurt", die sich in den Kopf gesetzt haben, zur Eröffnungsfeier am achten Achten aufzutreten, zum Zeitpunkt des Großen Rituals allesamt acht Jahre alt sind und noch ihr Bandname vor Zahlenmagie strahlt: "20088".

Im Übungsraum der Gruppe, in der Musikschule ihres Lehrers, spielt der kleine Gitarrist mit der kühn gegelten Tolle ein schmutziges, wild verzerrtes Riff, das Plektrum zwischen den Zähnen. Widerwillig erträgt er die Hände der Mutter, die sein Sweatshirt zurechtzupfen.

Der Bassist, Zöpfchen im Nacken, schlägt harte, knallende Funk-Töne. Der Keyboarder, gestickter Totenkopf auf der Hosentasche, fummelt am Roland-Synthesizer, die Augen zusammengekniffen.

Die Schlagzeugerin kommt verspätet; sie trägt Ringelstrümpfe und einen ernsten, wilden Ausdruck im Gesicht.

"Ich möchte unsere Flagge aufsteigen sehen", singen die vier, wie der Lehrer es ihnen aufgegeben hat, "möchte weinen zur Nationalhymne und cool wie ein Weltmeister sein." Sie singen hell und überdreht wie Kinder, doch sie lassen die Gitarren jaulen, als wären sie Wiedergeburten von Jimi Hendrix. Jugendliche drängen sich an der Glaswand des Übungsraums, machen Fotos mit Mobiltelefonen.

"Die Kleinen sind schon Idole ihrer Generation", sagt Lehrer Li.

"Kindergärten spielen das Lied zur Gymnastik. Fans schicken ihnen selbst gebastelte Minigitarren.

Sie spielen vor 7000 Zuschauern in der Pferderennbahn von Hongkong, treten auf mit Stars, die sie nur aus dem Fernsehen kannten.

Doch bei all dem sind sie Kinder geblieben." Sie sitzen keinen Augenblick still. Sie klettern auf die Knie der Erwachsenen, täuschen Wangenbisse an. Proben Kung-Fu-Gesten, duellieren einander mit Space- Guns und Maschinenpistolen aus Plastik.

"Hallo, Baby", sagen die Jungs zur Schlagzeugerin und umarmen sie.

"Es macht mir nichts aus, nur mit Jungs zusammenzuspielen", sagt die Kleine. "Ich behandle sie einfach wie Mädchen." Lieben sie den Beifall mehr als die Musik?

"Mir gefällt, dass wir den Präsidenten glücklich machen", kräht der Bassist. Pause, dann verstohlenes Prusten.

"Seit er in der Band ist, bringt er uns zum Lachen", sagt die Schlagzeugerin.

Doch was, wenn hinter dem Kinderwitz eine Wahrheit steckt?

Wenn es bei dem Song für die Eröffnungszeremonie tatsächlich darum geht, dem Präsidenten Glück zu bringen? Die Volkswirte der Investment-Bank Goldman Sachs trauen Olympia eine Steigerung des chinesischen Bruttoinlandsprodukts um 0,3 Prozent jährlich zu. Eine post-olympische Schwäche, wie sie frühere Gastgeberländer heimgesucht hat, hält auch Justin Yifu Lin, Chefökonom der Weltbank, für unwahrscheinlich:

Schließlich kämen nach Olympia noch die Expo 2010 in Schanghai und die Asian Games, um die Investitionen weiter anzuheizen.

Doch das "Jahr der Ratte", das mit dem chinesischen Neujahrstag am 7. Februar begonnen hat, ist eben kein leichtes Jahr. So sagten Chinas Astrologen und Hellseher internationale Spannungen, Naturund Flugzeugkatastrophen sowie turbulente Aktienmärkte voraus. Und der Feng-Shui-Meister Raymond Lo prophezeite diesem schwankenden Jahr, in dem das Element Erde über dem des Wassers stehe, "eine Menge unterschwelliger Spannungen und Konfrontationen".

Wie hält einer wie Chen Qigang, Zeremonienmeister für die Musik des Großen Rituals, den Riss aus: politischer Flüchtling zu sein, Pariser seit 24 Jahren, französischer Staatsbürger seit 16 Jahren - und nun auf Mission für die Kommunistische Partei der Volksrepublik China?

"Zweifellos gibt es ein Menschenrechtsproblem in China", sagt Chen. "Die Frage ist nur: Wie gehen wir damit um? Ich glaube an Harmonie. Das chinesische System ist nicht vernünftig.

Aber wir müssen es auch als Produkt seiner Geschichte betrachten.

Konfrontation ist keine Lösung." Das ist das daoistische Prinzip des wu wei, des "Nicht- Handelns", seit alters Maxime chinesischer Kaiser - und jene von Philosophen wie dem Meisterdenker Wang Bi, der im 3. Jahrhundert empfahl, sogar einen Tyrannen das Volk so lange tyrannisieren zu lassen, bis er selbst an seiner Tyrannei zugrunde gehe.

2007 wurden 742 Menschen wegen "Gefährdung der Staatssicherheit" verhaftet. "Störenfriede" landen ohne Gerichtsbeschluss in Umerziehungslagern. Und noch immer werden nach offiziellen Angaben mindestens 470 Straftäter pro Jahr von Staats wegen getötet, Dunkelziffer unbekannt.

Doch selbst ein rastloser Aktivist wie der Bürgerrechtsanwalt Li Subin rät trotz Verhaftungswellen und nationalistischer Ausbrüche vor allem zu einem - Geduld. "Wir sind es gewohnt, dass der Fortschritt immer Schritte vorwärtsgeht und dann wieder einen zurück." Li sitzt in seiner Plattenbau- Wohnung in der Satellitenstadt Changping, 30 Kilometer nördlich von Beijings Zentrum. Zweimal hat ihn die Obrigkeit für seine Widerborstigkeit bereits ins Gefängnis gesteckt. Viermal hat er erfolgreich die Regierung auf Entschädigung für Rechtsbrüche verklagt, hat 84 Gerichtsverfahren gegen Stadtverwaltungen gewonnen.

Li hat den blinden Juristen Chen Guangcheng verteidigt, der Zwangsabtreibungen und Sterilisationen auf Anweisung von Provinz- Beamten anprangerte und gerade eine vierjährige Haftstrafe absitzt - dem offiziellen Urteil nach wegen "Störung des Straßenverkehrs".

Als Li gemeinsam mit einem Kollegen Chens Heimatdorf aufsuchte, um mit dessen Frau zu sprechen, schlug eine Gruppe von 20 Unbekannten auf die Anwälte ein. Als sie vier Tage später wiederkamen, um Beweismaterial für Chen zu sammeln, stürzten Rowdys das Auto um, in dem Li und sein Kollege saßen - die Polizei schaute zu.

Jetzt liegt auf Lis Tisch eine Kopie der Anklageschrift gegen seinen Freund, den prominenten Dissidenten Hu Jia, der im April 2008 wegen "Untergrabung der Staatsgewalt" zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden ist.

Die Partei, sagt Li, sei kein einheitlicher Block. Es gebe die Konservativen. Und die Reformer, zu denen er den Präsidenten Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao zähle. Was zwischen den beiden Fraktionen herrsche, sagt Li, "ist ein Krieg". Und er sei sicher, dass die Reformer gewinnen werden.

Draußen explodiert das Feuerwerk einer Hochzeitsgesellschaft, erfüllt die Luft vor den Fenstern mit Rauch und frenetischem Krachen.

"Die Olympischen Spiele", sagt Li Subin, "sind unsere große Chance." Und vielleicht ist es ja so, wie die Alten sagen: Das Ritual bringt den Kosmos in Ordnung.

Auch wenn niemand weiß, wessen Ordnung es sein wird - die Ordnung des Westens oder die Ordnung der Diktatur.

Oder vielleicht gar ein Schritt hin zu der Ordnung, die der pensionierte Elektroingenieur Xiang Mingli aus Qinhuangdao in seinem Olympia-Gedicht träumt - in der "alle lebenden Dinge gemeinsam das Paradies auf Erden haben".

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Jörg-Uwe Albig


Jörg-Uwe Albig, geboren 1960 in Bremen, studierte Kunst und Musik in Kassel, war Redakteur beim »stern« und lebte zwei Jahre als Korrespondent einer deutschen Kunstzeitschrift in Paris. Seit 1993 arbeitet er als freier Autor in Berlin. Er schreibt u.a. für »GEO« und das »SZ Magazin«. 1999 erschien sein Romandebüt »Velo«, 2006 bei Tropen »Land voller Liebe«.
erschienen in:
GEO,
am 01.08.2008

 

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